Michael Sprünken

(Tod und) Auferstehung

Wenn ich sterbe, versagen alle körperlichen Funktionen, die mich bislang am Leben erhalten haben: mein Kreislauf, meine Atmung usw. Mein Körper beginnt zu verwesen und zerlegt sich in seine Bestandteile.

Das ist nicht nur bei mir so. Der Tod betrifft alles Lebende und er betrifft – soweit wir wissen – alles Lebende in gleicher Weise: „Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der Tod bestimmt durch vier Merkmale: Nonfunktionalität, Irreversibilität, Universalität und Kausalität. Nonfunktionalität bedeutet, dass der menschliche Körper im Ganzen nicht mehr funktioniert, Irreversibilität bezeichnet die Endgültigkeit des Todes, Universalität verweist auf die Tatsache, dass jeder Mensch, ja alles Lebendige, irgendwann stirbt, Kausalität schließlich heißt, dass der Tod aufgrund ganz bestimmter Ursachen eintritt.“ (Jakobs, Monika, Art. Tod/Todesverständnis, in: Wissenschaftlich-Religionspädagogisches Lexikon im Internet (www.wirelex.de), 2022)

Aber nicht alles, was lebt, befasst sich schon zu Lebzeiten mit seinem Tod. Die Menschen schon. Und auch hier bin ich keine Ausnahme. Ich erlebe den Tod anderer nicht nur als trauriges Erlebnis, das mich nicht betrifft. Wenn ich das Sterben und den Tod eines anderen Menschen miterlebe, werfe ich zugleich einen Blick auf das, was mir unweigerlich bevorsteht. So gesehen ist der Tod für uns Menschen gefährlicher als für viele andere Tiere. Er stellt uns nicht erst im Moment unseres Sterbens in Frage, sondern bereits mitten im Leben.

Die Allgegenwart des Todes spiegelt sich auch in der Bibel wider. Die Schöpfungserzählung weiß zunächst nichts vom Tod zu berichten. Er ist in der Schöpfung Gottes, der Lebendigen, offenbar nicht vorgesehen. Erst durch den Sündenfall (Gen 3,1-24), das Fehlverhalten des Menschen, müssen die Menschen sterben. Es überrascht daher nicht, dass der erste konkrete Todesfall, von dem Bibel erzählt, kein lebenssattes Sterben nach einem erfüllten Leben schildert, sondern eine gewaltsame Tötung: Kain tötet seinen Bruder Abel (Gen 4,1-16)

Dieses Denken findet sich nicht nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament. Im Römerbrief heißt es: „Deshalb: Wie durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt kam und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise der Tod zu allen Menschen gelangte, weil alle sündigten.“ (Röm 5,12 Einheitsübersetzung 2016)

Daneben gibt es aber auch andere Stellen in der Bibel, in denen der Tod als selbstverständlicher Teil des Lebens beschrieben wird: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben.“ (Koh 3,1f.) Warum es den Tod gibt, spielt hier keine Rolle.

Die nüchterne Betrachtungsweise des Buches Kohelet gleicht dem Blick der Naturwissenschaften. Sie beobachten die Phänomene, die ihnen in der Natur begegnen. Sie kommen dabei – wie oben bereits erwähnt – zu dem Ergebnis, dass das Tod den endgültigen und unumkehrbaren Funktionsverlust eines Lebewesens bezeichnet. Und dass das auch für mich gilt, weil es für alle Lebewesen gilt.

Aber sie bleiben bei diesem Befund nicht stehen. Sie können Funktionen entdecken, die der Tod in der Natur erfüllt. Sie können ihm also durchaus Positives abgewinnen. Der Tod ein wichtiger Teil des natürlichen Gleichgewichts: Wenn altes Leben stirbt, entsteht Platz für neues Leben; der durch Geburt und Tod ermöglichte Generationenwechsel, ermöglicht eine verbesserte Anpassung der Lebewesen an ihre Lebensbedingungen; durch den Tod (oder durch Tötung durch Fressfeinde) wird anderem Leben Nährstoffe zugeführt.

Für die pessimistische Deutung, dass der Tod durch die Sünde des Menschen in die Welt kam, bleibt unter der Perspektive wenig Platz. Dieser Erkenntnisgewinn der Naturwissenschaften hat für mich große Bedeutung. Die Naturwissenschaften beschreiben einen Grundkonsens unseres Wissens über Sterben und Tod, der nicht hintergehbar ist. Wenn Gott, die Lebendige, die Welt geschaffen hat, gehört der Tod unweigerlich dazu. Die Welt müsste ohne Tod irgendwann wegen Überfüllung geschlossen werden müssen.

Ich kann mir allerdings nur schlecht vorstellen, dass Gott, die Lebendige, die Mechanismen ihrer großartigen Schöpfung in besonders geregelten Einzelfällen außer Kraft setzt. Zu gravierend wären die Konsequenzen solcher wundersamen Eingriffe in den Lauf der Welt: Die Welt würde unberechenbar für mich. Und freie Entscheidungen setzen voraus, dass ich die Folgen meines Handelns berechnen kann. Nur so kann ich verantwortlich handeln und für meine Handlungen verantwortlich gemacht werden. Auferstehung als ein Außerkraftsetzen der Naturgesetze ist für mich keine tragfähige Perspektive.

Umgekehrt ist es für mich auch keine Perspektive, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Kenntnis zu nehmen und mich damit zu begnügen, durch Zeugung von Kindern den Fortbestand der Spezies Homo sapiens sapiens sichern zu helfen, und dann beizeiten abzutreten, um Platz für die kommende Generation zu machen und den Narzissen als Dünger zu dienen.

Ich hoffe, dass darin nicht der gesamte Sinn meines Lebens liegt.

Diese Hoffnung hat eine Quelle, und diese Quelle zunächst gar nichts mit meinem Glauben zu tun. Ich habe sowohl beruflich als auch privat Menschen sterben sehen. Und ich habe dabei erlebt, dass diese Menschen oftmals bis zum letzten Augenblick Hoffnung in sich trugen: Hoffnung, dass es ihren Kindern gut ergeht, dass ihr Lebenswerk weitergeht, Hoffnung, dass noch in den letzten Lebensstunden eine Versöhnung mit einem anderen Menschen gelingt. Das war nicht das Verhalten von Menschen, die ihre Schuldigkeit getan haben und pflichtgemäß abtreten und deren Platz unverzüglich von anderen eingenommen wird, ohne dass sie bleibende Spuren hinterlassen.

Nach dem Tod meiner Eltern habe ich erlebt, dass diese allerletzten Hoffnungen der Sterbenden bei mir auf ein positives Echo stießen. Bereitwillig räume ich ihnen bis heute einen Platz in meinem Leben ein: als Impulsgeber, kritische Kommentatorin oder einfach so. Mit ihrem Tod haben sie nicht aufgehört, mir hilfreich zur Seite zu stehen.

Und es fiel mir beispielsweise auch schwer, meine Mutter in ihrem Leichnam widerzuerkennen. Ihre Gesichtszüge und ihr Körper waren zwar deutlich als ihre Gesichtszüge und ihr Körper zu erkennen, aber irgendwie war es nicht sie. Das, was sie für mich bedeutet hat, war nicht mehr in ihr. Umso lebendiger war sie in den Gesprächen, als wir im Wohnzimmer ihrer Wohnung beisammen saßen. Wir erzählten von ihr, waren traurig, aber lachten auch.

Natürlich beweist das gar nichts, erst recht keine Auferstehung. Aber es gibt schon meiner Hoffnung Nahrung, dass auch ich nicht sang- und klanglos verschwinde, sondern zumindest Spuren hinterlasse bei denen, die mich kannten.

Vor diesem Erfahrungshintergrund erschließt sich mir die Ostererzählung ganz konkret. Ich kann mein Erleben des Todes anderer und meine Hoffnung darauf, dass es mir bei meinem Tod ähnlich ergehen wird, gut mit dem Erleben der Jünger*innen Jesu nach seinem Tod deuten: Sie hatten Jesus zu Lebzeiten als jemanden erlebt, der sich unermüdlich für mehr Leben engagierte, der Lebensminderungen durch Gewalt, Krankheit oder Tod unerschrocken entgegentrat. Nach dem Schock nach seiner Hinrichtung durch die römische Besatzungsmacht machten sie die Erfahrung, dass er ihnen – trotz seines Todes – weiter zur Seite stand und sie begleitete.

Die Bibel bringt dies in dem Bild des leeren Grabes zum Ausdruck. Das, was Jesus ausmachte, seine Lebensförderlichkeit und -freundlichkeit, lag nicht im Grab, sondern begegnete den Jünger*innen leibhaftig. Er scherte sich einfach nicht darum, dass er tot war, sondern begleitete die Jünger*innen und tröstete sie und gab ihnen Hoffnung. Sie erlebten ihn zuerst konkret und leiblich. Die Erzählungen von seinen Erscheinungen berichten davon sehr anschaulich: Sie sehen ihn und hören ihn sprechen, er isst, Thomas kann die Wunden berühren usw. Aber sie machen auch stutzig: Die Emmausjünger erkennen ihn über eine lange Strecke gemeinsamen Wegs nicht, erst die Symbolhandlung des Brotbrechens erkennen sie ihn. Außerdem taucht er unvermittelt auf und verschwindet ebenso unvermittelt. Seine Anwesenheit scheint eine andere gewesen zu sein als vor seinem Tod: wirklich (durch sein fortdauerndes Wirken) und leibhaftig (als derjenige, der er zu Lebzeiten für die Jünger war), aber nicht physisch-körperlich.

Aber dann geschieht noch etwas Unerwartetes: Die Erscheinungen enden und er gerät außer Sicht und Hörweite. Aber dennoch erleben seine Jünger*innen ihn weiter lebendig, mehr noch: Menschen, die ihn gar nicht kannten, erleben ihn auch so: lebensförderlich, tröstend, rettend und dadurch höchst lebendig.

Dass die Jünger*innen ihn nicht im Grab fanden, kann ich mir anhand meiner Erfahrung mit meiner Mutter gut verständlich machen: Sie erkannten im Leichnam Jesu genauso wenig das, was er für sie war, wie ich im Leichnam meiner Mutter. Auch dass Jesus ihnen durch ihre Erinnerungen lebendig vor Augen blieb und ihr Handeln weiter prägte, kann ich aus dem gleichen Grund gut nachvollziehen. Aber dieser letzte Schritt Jesu, dass sein Lebendigsein nach seinem Tod über den Kreis seiner Bekannten hinausgreift und Fremde ergreift, ist Glaubenssache.

Nach menschlichem Ermessen muss ich davon ausgehen, dass die Erinnerung an mich mit dem Tod des letzten Menschen endet, der mich kannte. Mein völliges Verschwinden fiele dann nicht mit Tod und Verwesung zusammen, sondern mit dem Vergessenwerden. Besser als nichts, aber dennoch erhoffe ich mir doch mehr. Etwas, das bleibt.

Das ist eine Hoffnung, mehr nicht. Jesu Beispiel gibt dieser Hoffnung Nahrung. An ihm wird mir deutlich, dass wir zwar mitten im Leben vom Tod umgeben sind, aber auch mitten im Tod vom Leben.

Anhaltspunkte für diese Hoffnung habe ich genug:

Ob diesem Platz, den wir ihnen in unserem Leben einräumen auch „objektiv“ ein Raum „im Himmel“ entspricht, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass wir Menschen ohne diese Hoffnung schlechter Leben oder unseren Lebensmut völlig verlieren. Die Hoffnung ist also wirklich. Sie wirkt zumindest im Hier und Jetzt.

Aber warum sollte einer Hoffnung, die wir zum Leben nötig haben, nicht auch eine wirkliche Hoffnungsquelle entsprechen? Gott, die Lebendige, nenne ich sie. Und sie steht mir in den Erzählungen über einen Zimmermannssohn aus Nazareth namens Jesus wirklich vor Augen.

Und wenn ich falsch liege? Dann gilt für mich immer noch, was der italienische Autor Alberto Vivegani in seiner „Flüchtigen Notiz“ in wundervollen Worten zum Ausdruck bringt:

Ich lebe von dem
Was ich nicht habe
Und manchmal sogar von dem
Was es gar nicht gibt.

© Michael Sprünken 2025

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